Zeitalter der
Beschleunigung
Das moderne Leben wird
immer hektischer und schneller. Stimmt das?
In seinem kürzlich erschienenen Buch „Die Zeit gehört uns.
Widerstand gegen das Regime der Beschleunigung“ greift der katholische
Sozialethiker Friedhelm Hengsbach eines der wohl drängendsten Probleme im
persönlichen Leben vieler Zeitgenossen auf: das Gefühl, sich in einem immer
schneller drehenden Rad aus Stress, Termindruck, Zeitnot und Hektik zu befinden.
Der Autor hat dafür den Begriff der „Beschleunigungsgesellschaft“
eingeführt, die alle Altersstufen und Lebensbereiche betrifft. Schon Kinder
führen Terminkalender und hetzen zwischen Schule, Ballettunterricht und
Nachhilfe hin und her. Der Arbeitstag von Erwachsenen ist nicht selten von
Stress und einer hohen Arbeitsdichte geprägt; Überstunden und Schichtdienste
gehören für viele zum Alltag.
Stress, Hektik, Leistungsdruck und Arbeitsdichte haben für
die meisten Menschen in den vergangenen Jahren offenbar rapide zugenommen.
„Höher, schneller und weiter“ ist daher nicht nur der Wahlspruch der
Olympioniken; es ist vor allem das Mantra eines sich ständig beschleunigenden
Finanzkapitalismus, der unmittelbar auf das Leben der Menschen durchgreift.
Für Hengsbach haben insbesondere die informationsgestützten
Finanzmärkte seit Beginn des neuen Jahrtausends „einen Megaschub an
gesellschaftlicher Beschleunigung“ angestoßen. Mit fatalen Folgen für die
Menschen: die derart beschleunigte Arbeitswelt führt zu immer mehr
psychosomatischen Erkrankungen, Schlaflosigkeit und dem mittlerweile fast allgegenwärtigen
„Burnout-Syndrom“.
Der nun erschienene "Stressreport Deutschland 2012" bestätigt diesen
Trend: Fast die Hälfte der Deutschen klagt über wachsenden Stress im Job. Verstärkt
werden diese Phänomene durch allerlei technische Errungenschaften der
vergangenen Jahre: Email, SMS, Mobiltelefone und Computer sorgen dafür, dass
der moderne Mensch, der bei 300 Stundenkilometern telefonierend im ICE sitzt, nahezu ständig
erreichbar ist.
Die Beschleunigung scheint also ein Wesensmerkmal der
Neuzeit zu sein. Ausgehend vom Fernhandel des Mittelalters kam dieser Prozess mit der Industrialisierung im 18. Jahrhundert in Gang und erfuhr im Computerzeitalter einen weiteren, dynamischen Schub. In den Megastädten der
globalisierten Welt findet die Beschleunigung gegenwärtig ihre wohl markanteste
Ausprägung.
Die Frage, ob das moderne Leben immer schneller und
hektischer wird, ist allerdings nicht so ohne weiteres zu beantworten. Schon das
wilhelminische Kaiserreich war von rastloser Unruhe geprägt; die Zeit um 1900
gilt nicht von ungefähr als die Ursprungszeit des modernen Tempos. Das „Hetzen
und Jagen“ sollte zum charakteristischen Signum einer ganzen Epoche werden.
Der Historiker Joachim Radkau hat die Zeit um 1900 daher treffend
als das „Zeitalter der Nervosität“ bezeichnet. Dass sich diese Entwicklung
unter den Bedingungen des digitalen Zeitalters verschärft und mithin beschleunigt hat, leuchtet ein.
Beschleunigung und Verdichtung sind zwei maßgebliche Schlüsselbegriffe der
Moderne. Insofern leben wir wohl tatsächlich in einem Zeitalter der
Beschleunigung.
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