Samstag, 26. Dezember 2015
Freitag, 27. November 2015
Ausnahmezustand und Norm
Ausnahmezustand und
Norm
Flüchtlingskrise und Terror reanimieren das Phänomen des
Ausnahmezustands
Spätestens seit den verheerenden Terroranschlägen vom 13.
November in Paris ist der Begriff des Ausnahmezustands in Europa wieder allgegenwärtig.
Das französische Parlament verlängerte den Ausnahmezustand um drei Monate. Der Notstand sieht zum Teil drastische Maßnahmen vor, z. B. Wohnungsdurchsuchungen
ohne richterlichen Beschluss sowie Hausarrest für verdächtige Personen.
Dennoch wird die massive Einschränkung der Bürgerrechte aufgrund
der weiterhin hohen Terrorgefahr von einer Mehrheit der Bevölkerung begrüßt. Auch
in Belgien herrschte bis gestern aufgrund einer akuten Anschlagsgefahr die
höchste Sicherheitsstufe, verbunden mit einem massiven Aufgebot an Sicherheitskräften.
Insbesondere die Hauptstadt Brüssel befand sich tagelang im Ausnahmezustand.
Und auch im vom Terror bislang verschonten Deutschland ist vielfach
vom Ausnahmezustand die Rede, zumeist allerdings im Zusammenhang mit der
Flüchtlingskrise. Polizei und Grenzschutz, Mitarbeiter des BAMF sowie freiwillige
Helfer sind am Limit ihrer Belastungsgrenze angekommen und arbeiten seit
Monaten im Krisenmodus der Ausnahme, der von einem „Normalzustand“ weit entfernt
ist.
Ein weiterer, bislang kaum beachteter Ausnahmezustand spielt
sich tagtäglich an den europäischen Außengrenzen sowie an den Binnengrenzen
zahlreicher Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ab. Er besteht im beständigen
Verstoß gegen das Grenzregime der EU, dass angesichts der großen Fluchtbewegungen
nicht mehr in der Lage ist, die Außengrenzen Europas wirksam zu schützen.
Das Schengener Abkommen, das die Abschaffung von
Passkontrollen an den Binnengrenzen zugunsten des Schutzes der Außengrenzen
vorsieht, ist durch den anhaltenden Flüchtlingsstrom derzeit faktisch außer
Kraft gesetzt. Die permanente Grenzverletzung hat freilich Gründe: Die
katastrophalen Zustände in den Flüchtlings-
lagern in Syrien, der Türkei und des Libanon bewegen viele Menschen zur Flucht.
lagern in Syrien, der Türkei und des Libanon bewegen viele Menschen zur Flucht.
Vordenker des Ausnahmezustands: Carl Schmitt |
Die anhaltende Flüchtlingskrise belegt, dass die durch
Bürgerkrieg, Terror und wirtschaftliches Elend verursachte Misere nicht länger
an den Grenzen Europas Halt macht. Krisensituationen die früher lokal bis
regional eingehegt waren, beginnen sich zunehmend zu entgrenzen und ziehen auch
unbeteiligte Staaten in ihren Bann. Die Globalisierung von Konflikten und
Krisenherden steht dabei wohl erst am Anfang.
Der schleichende Kontrollverlust über die eigenen
Landesgrenzen ist eng verzahnt mit der Preisgabe nationalstaatlicher
Souveränität. Zur Souveränität eines Landes gehört immer auch die Überwachung der
eigenen Staatsgrenze. Der beinah ohnmächtige Verlust des Grenzregimes durch
illegalen Grenzübertritt gleicht einem permanenten Ausnahmezustand, da die Ausnahme
an die Stelle der Norm getreten ist.
„Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“,
hat der berüchtigte Staatsdenker Carl Schmitt einmal postuliert. Der
italienische Philosoph Giorgio Agamben hat auf Basis dieser Definition den
Ausnahmezustand einmal als „ununterscheidbaren Raum zwischen Faktum und Recht“
bezeichnet. Die „normative Kraft des Faktischen“ (Georg Jellinek) beherrscht in
diesem Sinne die aktuelle Lage.
Denn dort, wo Entscheidungen nicht mehr aus Rechtsnormen
abgeleitet werden, sondern Fakten und Recht allein und unmittelbar aus
souveränen Entscheidungen resultieren, ist der Ausnahmezustand angesiedelt.
Dies betrifft sowohl permanente Grenzverletzungen als auch alle staatlichen
Maßnahmen im Zuge der Terrorbekämpfung, die unter dem Begriff des
Ausnahmezustands zu subsumieren sind.
Der „doppelte Ausnahmezustand“ an den Grenzen und im Innern Europas
birgt enorme Risiken. Sollte er andauern, kann dies langfristig zu ökonomischen
Verwerfungen und Staatszerfall führen; auch die gesellschaftliche Statik könnte
destabilisiert werden. Der gegenwärtig zu beobachtende Ausnahmezustand ist
damit vor allem eins: das Symptom einer globalen Krise, die längst in Europa angekommen
ist.
Montag, 31. August 2015
Die Mühsal des Daseins
Die
Mühsal des Daseins
Camus’ Sisyphos könnte aus Berlin-Friedrichshain stammen. Eine
Spurensuche
Das Leben ist nicht immer einfach. Die ewige Sorge ums Dasein
kann einen schon mal um den Schlaf bringen oder doch zumindest gehörig die Stimmung
verhageln. An manchen Tagen kommt es ja auch knüppeldick: alles
Schlechte scheint sich sodann verabredet zu haben, um uns mit List und
Gemeinheit die Niederungen des Daseins vor Augen zu führen.
Als literarisches Sinnbild für die ewige Mühsal der Existenz gilt
„Der Mythos des Sisyphos.“ Das philosophische Hauptwerk des französischen Existentialisten
Albert Camus (1913-1960) beschäftigt sich mit der Absurdität der menschlichen Existenz.
Camus’ Held, Sisyphos, wurde von den Göttern dazu verurteilt, unablässig einen schweren
Felsblock einen Berg hinaufzurollen.
Sobald Sisyphos den Gipfel des Berges erreicht, rollt der Stein
kraft seines eigenen Gewichtes wieder hinab. Alle Arbeit, alle Mühsal ist
umsonst. Die Strafe der Götter stellt sich als eine besonders grausame dar,
denn sie verurteilt Sisyphos zu einer vollkommen sinnfreien Strafarbeit, welche
die Absurdität und Verlorenheit des menschlichen Daseins offenlegt.
Das Spannungsverhältnis zwischen einer vermeintlich sinnlosen
Welt und einer menschlichen Existenz, die ihrem Dasein darin einen objektiven
Sinn zuschreiben möchte, begründet das Absurde. Nun gibt es auf diesem
Planeten Orte, an denen sich Mühsal, Sinnlosigkeit und menschliche Sorge zu einer
geheimnisvollen Melange verdichten.
Absurde Orte.
Ein ebensolcher Ort befindet sich in Berlin, mitten im
Hipster-Stadtteil Friedrichshain. Die Ecke Mühsam-/Sorgestraße ist offenkundig
ein solch problembeladener Ort, an dem die ganze Last des Daseins das
Individuum zu erdrücken droht. Wie viel Mühsal und Sorge vermag ein
Menschenleben an solch bedrückendem Ort schultern? Hat Sisyphos hier einst
gelitten?
Problembeladene Zone: Ecke Mühsam-/Sorgestraße |
Die Namensgeber der Kreuzung, Erich Mühsam (1878-1934) und
Richard Sorge (1895-1944), können keine Auskunft mehr geben, sie sind längst
tot. Erich Mühsam war Anarchist und Schriftsteller, der von den Nazis ermordet
wurde. Der Kommunist Richard Sorge war als Spion für die UdSSR im Zweiten Weltkrieg
aktiv und wurde dort als „Held der Sowjetunion“ verehrt.
In dem Aufbegehren gegen die absurde Existenz erlangt Sisyphos
am Ende die Freiheit wieder und kann sich auf diese Weise selbst
verwirklichen. Er nimmt sein Schicksal durch Verachtung an und besiegt dadurch
das Urteil der Götter - und das alles mitten in Berlin, wer hätte das gedacht! Als ob
es hier nicht schon genug bedeutungsvolle Orte von Weltrang gäbe.
Mühsam und Sorge - Nomen est omen auf ewig? Weit gefehlt! Der Philosoph
Immanuel Kant (1724-1804) hat drei Dinge auserkoren, die helfen, die Mühsal des
Lebens zu tragen: Den Schlaf, die Hoffnung und das Lachen. Das sollte auch an
problembeladenen Zonen wie der Ecke Mühsam-/Sorgestraße funktionieren. Aller
Absurdität der menschlichen Existenz zum Trotz.
Albert Camus hätte das vielleicht gefallen.
Montag, 27. Juli 2015
Gehen oder Stehen
Gehen oder Stehen
Zwischen Kult und
Kommerz: Das Ampelmännchen geht seinen Weg
Der Durchschnittsdeutsche neigt im Allgemeinen zum
regelkonformen Verhalten. Besonders gut lässt sich dieses Phänomen an einer
x-beliebigen Fußgängerampel beobachten: Ganz vorbildlicher Staatsbürger, bleibt
er selbst dann vor dem roten Ampelmännchen, pardon, der rot geschalteten Lichtzeichenanlage stehen, wenn spät in
der Nacht kein Auto in Sicht ist und nachahmungswillige Kinder längst in ihren
Betten schlummern.
Gesetz ist nun einmal Gesetz und Recht muss Recht bleiben,
auch wenn es sich hier „nur“ um die Einhaltung der Straßenverkehrsordnung
handelt. Das Erbe des obrigkeitsgläubigen „Untertanen“, von Heinrich Mann in
seinem gleichnamigen Roman einst treffend charakterisiert, lässt sich anhand
des gesetzestreuen Verhaltens, das sich über Generationen hinweg nur marginal
verändert hat, an jeder roten Ampel neu bestaunen.
Die Geschichte der Fußgängerampeln hat infolge der deutschen
Teilung indes eine unterschiedliche Entwicklung genommen. Der dürre West-Ampelmann
ist seinem ostdeutschen Pendant rein zahlenmäßig zwar weit überlegen; dafür verfügt
das grün-rote Strichmännchen im Gegensatz zum Ost-Ampelmann über keinerlei
Charme und besitzt wegen der kleineren Lichtfläche im wahrsten Sinne des Wortes
nur über eine geringe „Ausstrahlung“.
Denn das von dem Berliner Erfinder Karl Peglau entworfene
Ost-Ampelmännchen besitzt viel Fläche für rotes und grünes Licht und ist daher
besser zu erkennen als der West-Ampelmann. Darüber hinaus trägt das Ampelmännchen
der früheren DDR einen Hut und ist dadurch per se eine kultige Erscheinung. Peglau
wurde dabei offenbar durch Staats-
chef Erich Honecker inspiriert, der sich im Sommer gern mit einem Strohhut zeigte.
chef Erich Honecker inspiriert, der sich im Sommer gern mit einem Strohhut zeigte.
Berliner Wahrzeichen: das Ampelmännchen |
Nach dem Mauerfall drohte dem Ost-Ampelmann ein ähnliches
Schicksal wie so manch unrentablem Betrieb: Das Ampelmännchen der DDR wurde
sukzessive zugunsten seines schlankeren West-Kollegen ersetzt. Doch es regte
sich Widerstand, eines der wenigen, wirklich sympathischen Gesichter des
Sozialismus so einfach abzuwickeln. Mit Erfolg - seit 2005 regelt der Ossi mit
Hut auch in den West-Berliner Bezirken routiniert den Verkehr.
2014 erreichte dann die Genderdebatte sowohl das West- als
auch das Ost-Ampelmännchen. Diese sind, der Name sagt es ja bereits, durchweg männlich, und im Sinne der
Gleichstellungsdebatte unzeitgemäß maskulin. So wurden in Dortmund weibliche
Ampelfrauen, die es in Zwickau und Dresden längst gibt, ernsthaft diskutiert;
das Vorhaben wurde allerdings von der Dortmunder Stadtverwaltung
abgeschmettert.
Auch im Berliner Bezirk Mitte sprach sich die Gleichstellungsbeauftragte
für eine paritätische Aufteilung männlicher und weiblicher Ampelfiguren aus.
Auf diese Weise solle die Diskriminierung von Frauen abgestellt werden. Zuletzt
wurden in Berlin sogar schwule und lesbische Ampelfiguren gefordert, die als Ampelpärchen
für mehr Toleranz und Akzeptanz werben sollten. Da fragt man sich schon mal, ob
es nicht drängendere Probleme in den Städten gibt.
Der Versuch, mit Ampelfiguren gesellschaftliche und
politische Statements ausdrücken zu wollen, erscheint reichlich albern;
Gleichberechtigung und mehr Toleranz lassen sich kaum mit einer wie auch immer
gearteten Ampel verwirklichen. Bei Fußgängerampeln geht es doch eigentlich nur
um eines: „Gehen oder Stehen.“ Ampeln regeln den Verkehr und das kultige Ost-Ampelmännchen
tut dies auf seine eigene Weise.
Das Ost-Ampelmännchen hat inzwischen sogar Karriere gemacht:
Es wurde durch einen cleveren Geschäftsmann als Nostalgiefigur entdeckt, patentrechtlich
geschützt und wird heute in mittlerweile sechs Berliner Shops perfekt
vermarktet. T-Shirts, Schlüsselanhänger und Kaffeetassen werden mit dem
beliebten Konterfei des Ampelmanns gehandelt, der sich immer mehr zu einem
echten Berliner Wahrzeichen mausert.
Werden Sie, werter Leser, nach dieser wechselvollen
Geschichte, nun endlich mehr Respekt vor dem Ampelmännchen haben und bei rot auch
tatsächlich stehen bleiben?
Regelt routiniert den Verkehr: der Ampelmann |
Montag, 15. Juni 2015
Der Beinahe-Untergang
Der Beinahe-Untergang
Bundesliga-Historie: Der
HSV weckte zuletzt Erinnerungen an Tasmania Berlin
Fast wäre es passiert: Der einstmals große HSV, mehrmaliger
Meister und Pokalsieger, Europapokalsieger der Landesmeister, Gründungsmitglied
der Fußball-Bundesliga und in beinah 52 Jahren niemals abgestiegen, hätte nach
einer desaströs schlechten Saison beinah den Gang in die 2. Liga antreten
müssen. Und das, obwohl der Verein zuvor mit Millioneninvestitionen in neue
Spieler verstärkt worden war.
Zwischenzeitlich schoss der „Dino“ der Liga so wenige Tore,
dass Erinnerungen an die grottenschlechte Tasmania aus Berlin wach wurden. Der Neuköllner SC Tasmania 1900 Berlin spielte in der Saison 1965/66 in der
höchsten deutschen Spielklasse. Durch die ständigen Negativvergleiche mit dem
HSV wollte ich es einmal genau wissen und bin in die Historie von Tasmania
Berlin eingetaucht.
Der DFB entschied im Juli 1965 Tasmania in die Bundesliga
aufzunehmen. Grund dafür waren finanzielle Probleme des Stadtrivalen Hertha BSC
Berlin (es ging um einen aus heutiger Sicht läppischen Fehlbetrag von 192.000
DM). Hertha wurde vom Spielbetrieb ausgeschlossen. Aufgrund der geringen
Spielstärke Tasmanias erntete der politisch motivierte Entschluss des DFB
jedoch bei vielen Bundesligisten Kritik.
Tasmania Berlin: schlechtester Club der Ligageschichte |
Der Kader von Tasmania erwies sich schnell als nicht
konkurrenzfähig: In 34 Ligaspielen konnten die Berliner nur zwei Siege
erringen; Tasmania schoss nicht nur die wenigsten Tore (15), der Club kassierte
auch die meisten Gegentreffer (108) und errang infolgedessen die wenigsten
Punkte (8). Kein Wunder also, dass Tasmania Berlin bis heute der erfolgloseste
Verein der Bundesligahistorie ist.
Doch Tasmania stellte weitere Negativrekorde auf: Der Club
erlitt die höchste Heimniederlage (0:9 gegen den Meidericher SV), bestritt das
Bundesligaspiel mit den wenigsten Besuchern (827) und belegte den letzten Platz
in der Ewigen Bundesliga-Tabelle. Tasmanias Abstieg war daher nur folgerichtig.
1973 ging Tasmania schließlich bankrott, wurde später aber als SV Tasmania
Berlin neugegründet.
Heimstatt von Tasmania: Der Werner-Seelenbinder-Sportpark in Berlin-Neukölln |
Soweit die Geschichte von Tasmania Berlin. Die hochbezahlten
Kicker vom HSV waren in dieser Saison mit 16 erzielten Toren in der Hinrunde und
einem 0:8 gegen Bayern München zwar nur fast
so schlecht wie Tasmania; durch die beispiellose Misswirtschaft der Vereinsführung
(drei verschlissene Trainer!) konnte der Absturz in die Zweitklassigkeit am
Ende aber nur knapp in der Relegation verhindert werden.
Das Getue um die Stadionuhr, welche die Zugehörigkeit des
HSV zur ersten Liga als Alleinstellungsmerkmal dokumentiert, sowie das ständige
Gerede vom „Dino“ der Liga mussten sich überdies irgendwann einmal rächen: Wer
ständig damit hausieren geht, dass er seit 30 Jahren unfallfrei Auto fährt,
fordert sein Schicksal geradezu heraus und landet just am nächsten Baum. Genau
das wäre dem HSV nun fast passiert.
Spielerisch war der HSV in der abgelaufenen Saison derart
schwach, dass der Abstieg sportlich verdient und mithin gerecht gewesen wäre.
Aber im Leben gibt es nun mal keine Gerechtigkeit und in einer
ergebnisorientierten Sportart wie Fußball sowieso nicht. Glück und Zufall geben
oft den Ausschlag. Ob der HSV sich in Zukunft stabilisiert oder weiter auf den
Spuren von Tasmania Berlin wandelt bleibt indes offen.
Montag, 25. Mai 2015
Moderne Völkerwanderung
Moderne
Völkerwanderung
Flüchtlingsströme und
Armutsmigration halten derzeit Europa in Atem
Nicht nur an der unmittelbaren Außengrenze zur Europäischen
Union, im Mittelmeer, sind in diesen Wochen dramatische Fluchtbewegungen zu
beobachten; auch in Südostasien haben sich Tausende Bootsflüchtlinge
aufgemacht, um Krieg, Armut, Verfolgung und Elend gegen ein Leben in Frieden
und Freiheit einzutauschen. Das Risiko der oft lebensgefährlichen Überfahrten
nehmen die Menschen dabei bewusst in Kauf.
Hier wie dort sind es skrupellose Schlepperorganisationen,
die sich an dem Flüchtlings-elend
bereichern und Flüchtlinge nicht selten auf besseren „Nussschalen“ und
Schlauchbooten auf die Überfahrt in eine ungewisse Zukunft schicken. In diesem
Frühjahr gab es beinah täglich Meldungen, die von havarierten Booten und dramatischen
Rettungsaktionen in Seenot geratener Flüchtlingen kündeten.
Zahlreiche Boote kenterten bei dem Versuch, das Mittelmeer
zu überqueren. Allein am 18. April diesen Jahres ertranken über 700 Flüchtlinge
im Meer, nur wenige Menschen konnten aus den Fluten gerettet werden. Schätzungen
der EU gehen davon aus, dass allein in Libyen bis zu eine Millionen Menschen
auf ihre Passage nach Europa warten. Die „Festung Europa“ wird unterdessen weiter von
der EU ausgebaut.
Die Migrationsbewegungen entfalten durch die Benutzung
moderner Verkehrsmittel (Flugzeug, Bahn, Auto) eine besondere Dynamik. Denn
längst nicht alle Flüchtlinge gelangen auf dem gefährlichen und strapaziösen
Seeweg nach Europa. Doch eben jene Bootsflüchtlinge sind es, welche die
Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit derzeit besonders erregen und die
europäischen Institutionen zum Handeln auffordern.
Schaut man in die Geschichtsbücher, so wird man Parallelen
erkennen, die dazu berechtigen, dass man von einer modernen Völkerwanderung
sprechen kann. Der Historiker Karl Schlögel hat die Erde einmal als „Planet der
Nomaden“ bezeichnet, da das Leben auf ihr seit Anbeginn von Wanderungsbewegungen
bestimmt ist. Schon früher sind die Menschen ausgewandert, um in der Fremde ihr
Heil zu suchen.
Die erste Wanderungswelle der Menschheit stellt die
Auswanderung des Homo sapiens aus Afrika vor rund 100.000 Jahren dar. In der
Antike kam es infolge der Ausdehnung des Römischen Reiches durch Kriege und
Eroberungen zu gewaltigen Bevölkerungs-verschiebungen und Wanderungswellen. Die
große Völkerwanderung in Europa datiert
aus dem 4.-6. Jahrhundert und wurde zum
festen Epochenbegriff.
Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde, heute ein Übergangswohnheim für Flüchtlinge und Asylbewerber |
Vom 16. bis ins 20. Jahrhundert schließlich vollzog sich ein
beispielloser
Migrantenstrom: Die Menschen kehrten dem armen, von
Unfreiheit geprägten Europa den Rücken und wanderten in die „Neue
Welt“ Amerikas aus. All dies belegt: Solang es Menschen gibt, war ein Teil von
ihnen auf der Wanderung in Regionen, die bessere Lebensbedingungen versprachen; derzeit sind weltweit Millionen auf der Flucht.
Dabei sind die Motive für die Auswanderung ebenso
verschieden wie die Menschen selbst. Man kann jedoch davon ausgehen, dass die
meisten Flüchtlinge ganz einfach von einem besseren Leben träumen - und wer
will ihnen das verdenken? Dass durch Migration Grenzen überschritten werden ist
dabei ebenso zwangsläufig wie banal. Und genau hier, in den Aufnahmestaaten, beginnt
das Problem mit der Migration.
Denn die Zuwanderer sehen sich an ihrem neuen Ort nicht
selten mit Vorurteilen und Ängsten konfrontiert. Migration verändert die
Zusammensetzung von Gesellschaften. Die Kommunen in den Aufnahmeländern werden
dabei nicht selten an die Grenzen ihrer finanziellen Belastbarkeit gebracht. Und
doch wird man Zuwanderung als eine historische Realität anerkennen müssen, die
sich kaum wirksam begrenzen lässt.
Die Zielstaaten der Migration müssen daher humane Antworten
auf die derzeitige Herausforderung einer neuen, globalen Völkerwanderung finden.
Donnerstag, 26. März 2015
Wenn Minister irren
Wenn Minister irren
25 Jahre „Gscheidle-Irrtum“:
Wie ein Postminister in Erklärungsnot geriet
Postminister gehören einer politischen Spezies an, die
unlängst ausgestorben ist. Zu ihren Aufgaben gehörte die politische Leitung des
einstmals staatlichen Post- und Fernmeldewesens. Mit der Privatisierung von
Post und Telekom in den 90er Jahren wurden die meisten staatlichen Aufgaben der
Behörde obsolet. Das Bundesministerium für Post und Telekommunikation wurde
infolgedessen 1997 aufgelöst.
Der Postminister war fortan nicht mehr fester Bestandteil
einer Bundesregierung. Ein Blick in die Geschichte des Postministeriums offenbart,
dass zahlreiche prominente Politiker als Postminister wirkten: illustre
Persönlichkeiten wie Richard Stücklen, Georg Leber, Horst Ehmke und Christian Schwarz-Schilling
waren darunter. Meist war das Ressort des Postministers ein Sprungbrett für
höhere politische Weihen.
Nicht so im Fall des schwäbischen SPD-Politikers Kurt
Gscheidle (1924-2003), der von 1974 bis 1982 Postminister im Kabinett Helmut
Schmidts war. Gscheidle dürfte als Politiker heute weithin vergessen sein, sein
posthumer Ruhm rührt allein durch den nach ihm benannten, sogenannten
„Gscheidle-Irrtum“. Kurt Gscheidle hat es damit sogar bis ins Museum gebracht,
aber der Reihe nach.
Kurz vor der Eröffnung der XXII. Olympischen Sommerspiele von
Moskau sollte im April 1980 eine Sonderbriefmarke unter dem Titel „Olympiafahne
1980“ erscheinen. Aufgrund des sowjetischen Einmarsches in Afghanistan boykottierte
allerdings ein Großteil der Staatengemeinschaft die Olympiade; die Briefmarke
wurde daher nicht herausgegeben und alle bereits produzierten Bestände wieder eingestampft.
Der „Gscheidle-Irrtum“ im
Museum: Briefmarken der Serie
„Olympiafahne 1980“ im Museum für Kommunikation,
Berlin
|
Nach damals üblicher Praxis waren dem Postminister vorab
einige Bögen der Briefmarken als Vorausexemplar zugestellt worden. Diese
wanderten durch ein Versehen Gscheidles in den privaten Schreibtisch des
Ministers, wo sie zwischenzeitlich in Vergessenheit gerieten. Die Ehefrau des
Ministers, Elisabeth Gscheidle, brachte die ungültigen Marken dann ab 1982 in
Umlauf - und den „Gscheidle-Irrtum“ in die Welt.
Frau Gscheidle, offenbar ganz sparsame Schwäbin, ahnte
nichts von der postamtlichen Ungültigkeit der Briefmarken. Sie versendete gut
zwei Dutzend der Marken für private Zwecke und löste Jahre später, ganz unfreiwillig, in
der Briefmarkenszene große Erregung aus. Kurt Gscheidle, 1982 schon nicht mehr
im Amt, dürfte durch den folgenreichen Schreibtischfund in arge Erklärungsnot
geraten sein.
Die Seltenheit des offiziell nicht existenten
Postwertzeichens sorgte dafür, dass Sammler in den vergangenen Jahren auf
Auktionen große Summen für die Olympiabriefmarken bezahlten. So wurde eine Briefmarke
aus dem Gscheidle-Fundus 2010 für 26.000 Euro versteigert; ein anderes
Exemplar, das auf einer Postkarte versendet wurde, erzielte auf einer Auktion
mit 85.000 Euro den bislang höchsten Erlös.
Eine Marke, mit der Frau Gscheidle eine Postkarte für ein
Preisausschreiben frankierte, bescherte ihr immerhin eine Polaroid-Kamera als
Gewinn. Angesichts der exorbitanten Wertsteigerung der Gscheidle-Marken war
dies rückblickend wohl nur ein schwacher Trost. Immerhin: Ohne den „Gscheidle-Irrtum“
wäre die Philatelie heute sowohl um eine Briefmarken-Rarität als auch um eine
launige Anekdote ärmer.
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