Ausnahmezustand und
Norm
Flüchtlingskrise und Terror reanimieren das Phänomen des
Ausnahmezustands
Spätestens seit den verheerenden Terroranschlägen vom 13.
November in Paris ist der Begriff des Ausnahmezustands in Europa wieder allgegenwärtig.
Das französische Parlament verlängerte den Ausnahmezustand um drei Monate. Der Notstand sieht zum Teil drastische Maßnahmen vor, z. B. Wohnungsdurchsuchungen
ohne richterlichen Beschluss sowie Hausarrest für verdächtige Personen.
Dennoch wird die massive Einschränkung der Bürgerrechte aufgrund
der weiterhin hohen Terrorgefahr von einer Mehrheit der Bevölkerung begrüßt. Auch
in Belgien herrschte bis gestern aufgrund einer akuten Anschlagsgefahr die
höchste Sicherheitsstufe, verbunden mit einem massiven Aufgebot an Sicherheitskräften.
Insbesondere die Hauptstadt Brüssel befand sich tagelang im Ausnahmezustand.
Und auch im vom Terror bislang verschonten Deutschland ist vielfach
vom Ausnahmezustand die Rede, zumeist allerdings im Zusammenhang mit der
Flüchtlingskrise. Polizei und Grenzschutz, Mitarbeiter des BAMF sowie freiwillige
Helfer sind am Limit ihrer Belastungsgrenze angekommen und arbeiten seit
Monaten im Krisenmodus der Ausnahme, der von einem „Normalzustand“ weit entfernt
ist.
Ein weiterer, bislang kaum beachteter Ausnahmezustand spielt
sich tagtäglich an den europäischen Außengrenzen sowie an den Binnengrenzen
zahlreicher Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ab. Er besteht im beständigen
Verstoß gegen das Grenzregime der EU, dass angesichts der großen Fluchtbewegungen
nicht mehr in der Lage ist, die Außengrenzen Europas wirksam zu schützen.
Das Schengener Abkommen, das die Abschaffung von
Passkontrollen an den Binnengrenzen zugunsten des Schutzes der Außengrenzen
vorsieht, ist durch den anhaltenden Flüchtlingsstrom derzeit faktisch außer
Kraft gesetzt. Die permanente Grenzverletzung hat freilich Gründe: Die
katastrophalen Zustände in den Flüchtlings-
lagern in Syrien, der Türkei und des Libanon bewegen viele Menschen zur Flucht.
lagern in Syrien, der Türkei und des Libanon bewegen viele Menschen zur Flucht.
Vordenker des Ausnahmezustands: Carl Schmitt |
Die anhaltende Flüchtlingskrise belegt, dass die durch
Bürgerkrieg, Terror und wirtschaftliches Elend verursachte Misere nicht länger
an den Grenzen Europas Halt macht. Krisensituationen die früher lokal bis
regional eingehegt waren, beginnen sich zunehmend zu entgrenzen und ziehen auch
unbeteiligte Staaten in ihren Bann. Die Globalisierung von Konflikten und
Krisenherden steht dabei wohl erst am Anfang.
Der schleichende Kontrollverlust über die eigenen
Landesgrenzen ist eng verzahnt mit der Preisgabe nationalstaatlicher
Souveränität. Zur Souveränität eines Landes gehört immer auch die Überwachung der
eigenen Staatsgrenze. Der beinah ohnmächtige Verlust des Grenzregimes durch
illegalen Grenzübertritt gleicht einem permanenten Ausnahmezustand, da die Ausnahme
an die Stelle der Norm getreten ist.
„Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“,
hat der berüchtigte Staatsdenker Carl Schmitt einmal postuliert. Der
italienische Philosoph Giorgio Agamben hat auf Basis dieser Definition den
Ausnahmezustand einmal als „ununterscheidbaren Raum zwischen Faktum und Recht“
bezeichnet. Die „normative Kraft des Faktischen“ (Georg Jellinek) beherrscht in
diesem Sinne die aktuelle Lage.
Denn dort, wo Entscheidungen nicht mehr aus Rechtsnormen
abgeleitet werden, sondern Fakten und Recht allein und unmittelbar aus
souveränen Entscheidungen resultieren, ist der Ausnahmezustand angesiedelt.
Dies betrifft sowohl permanente Grenzverletzungen als auch alle staatlichen
Maßnahmen im Zuge der Terrorbekämpfung, die unter dem Begriff des
Ausnahmezustands zu subsumieren sind.
Der „doppelte Ausnahmezustand“ an den Grenzen und im Innern Europas
birgt enorme Risiken. Sollte er andauern, kann dies langfristig zu ökonomischen
Verwerfungen und Staatszerfall führen; auch die gesellschaftliche Statik könnte
destabilisiert werden. Der gegenwärtig zu beobachtende Ausnahmezustand ist
damit vor allem eins: das Symptom einer globalen Krise, die längst in Europa angekommen
ist.
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