Freitag, 30. Mai 2014

Lob der Lüge

Lob der Lüge
Warum das Flunkern ein Mittel kluger Lebensführung ist

Jeder kennt sie, gebraucht sie und geht ihr gelegentlich auf den Leim. Die Rede ist von der Lüge, jener offenkundig unwahren Äußerung, die vom Lügner mit der Absicht getätigt wurde, um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen oder ein Fehlverhalten zu kaschieren; sich selbst oder andere in besserem Licht zu präsentieren oder aber um einer Strafe zu entgehen.

Die Lüge ist dabei mindestens ebenso alt wie die Menschheit daselbst und mithin eine echte Kulturtechnik. Seit Jahr und Tag wird allüberall gelogen, dass sich die Balken biegen: Im Berufs- und im Privatleben, in der Werbung, im Vorstellungsgespräch und natürlich in der großen Politik. Ganz zu Schweigen von den täglichen Lügen der bunten Zeitung mit den großen Buchstaben.

Wer kennt sie also nicht, die kleinen Lügen des Alltags, die es uns ermöglichen, einen winzigen, aber zuweilen entscheidenden Vorteil zu schinden? Die geschönte Altersangabe in Internetprofilen gehört ebenso dazu wie ein geheucheltes „Es geht mir gut“. Auch vorgetäuschte, angeblich vorhandene Kenntnisse in CorelDraw, SPSS oder Esperanto fallen unter die Lügen-Kategorie.  

Unterschiedliche Lebenssituationen erfordern allerdings differenzierte Formen des Lügens. Die handfeste Lüge à la Barschel („Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort…“) ist von der situativen Notlüge zu unterscheiden („Es ist nicht das, wonach es aussieht…“), die wiederum von der Höflichkeitslüge zu scheiden ist. („Sie schauen aber fantastisch aus heute!“)

Würde man allen Menschen immer nur die Wahrheit entgegenschleudern, hätte man schon recht bald keine Freunde mehr, denn nichts ist so verletzend und unhöflich wie die Wahrheit. Allen Lügen gemein sind die sprichwörtlich kurzen Beine. Die kleine Schwester der großen Lüge, das Flunkern, kommt dabei insgesamt harmloser, weniger verschlagen und berechnend daher.

Das Flunkern oder auch Schwindeln zeichnet sich durch ein maßvolles Absehen von der Wirklichkeit aus. Auch die Eigenlüge, der Selbstbetrug, ist letztlich ein weit verbreitetes Ritual, um vor sich selbst und einer allzu harten Realität zu bestehen: „Man Alter, so schlimm ist der Bauch doch gar nicht“. Jeder hat ein Selbstbild von sich im Kopf, das mit der Wirklichkeit nicht unbedingt in Einklang steht.

Allgemein neigt man dazu, sich selbst aufzuwerten, positiver und selektiver wahrzunehmen als dies der tatsächlichen Lage entspricht. Die Lüge übernimmt hier die Funktion der Identitätsbewahrung und Realitätsbewältigung: das Leben wird durch die Lüge überhaupt erst aushaltbar. Aus dieser Perspektive gerät der Selbstbetrug zum strukturbildenden Prinzip der menschlichen Existenz überhaupt.

Das Flunkern avanciert - wohldosiert eingesetzt - zu einem Mittel kluger Lebensführung. „Leben lernen“ bedeutet in der postmodernen Gesellschaft zu einem gewissen Grad wohl auch „Lügen lernen“. Indes, da gab es doch noch das achte Gebot: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.“ Und außerdem: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht“. Oh je, auch wieder wahr.

Wie eng Lüge und Wahrheit miteinander verwoben sind, wie sie einander bedingen und sich dabei gegenseitig beeinflussen, hat der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard (1931-1989) erkannt und dereinst ebenso lakonisch wie zutreffend formuliert: „Letzten Endes kommt es immer nur auf den Wahrheitsgehalt der Lüge an“. Wie wahr.

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