Lob der Lüge
Warum das Flunkern ein
Mittel kluger Lebensführung ist
Jeder
kennt sie, gebraucht sie und geht ihr gelegentlich auf den Leim. Die
Rede ist von der Lüge, jener offenkundig unwahren Äußerung, die vom Lügner mit
der Absicht getätigt wurde, um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen oder ein
Fehlverhalten zu kaschieren; sich selbst oder andere in besserem Licht zu
präsentieren oder aber um einer Strafe zu entgehen.
Die
Lüge ist dabei mindestens ebenso alt wie die Menschheit daselbst und mithin eine
echte Kulturtechnik. Seit Jahr und Tag wird allüberall gelogen, dass sich die
Balken biegen: Im Berufs- und im Privatleben, in der Werbung, im Vorstellungsgespräch
und natürlich in der großen Politik. Ganz zu Schweigen von den täglichen Lügen
der bunten Zeitung mit den großen Buchstaben.
Wer
kennt sie also nicht, die kleinen Lügen des Alltags, die es uns ermöglichen,
einen winzigen, aber zuweilen entscheidenden Vorteil zu schinden? Die geschönte
Altersangabe in Internetprofilen gehört ebenso dazu wie ein geheucheltes „Es
geht mir gut“. Auch vorgetäuschte, angeblich vorhandene Kenntnisse in CorelDraw,
SPSS oder Esperanto fallen unter die Lügen-Kategorie.
Unterschiedliche
Lebenssituationen erfordern allerdings differenzierte Formen des Lügens. Die
handfeste Lüge à la Barschel („Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort…“) ist von der situativen
Notlüge zu unterscheiden („Es ist nicht das, wonach es aussieht…“), die wiederum
von der Höflichkeitslüge zu scheiden ist. („Sie schauen aber fantastisch aus
heute!“)
Würde
man allen Menschen immer nur die Wahrheit entgegenschleudern, hätte man schon
recht bald keine Freunde mehr, denn nichts ist so verletzend und unhöflich wie
die Wahrheit. Allen Lügen gemein sind die sprichwörtlich kurzen Beine. Die
kleine Schwester der großen Lüge, das Flunkern, kommt dabei insgesamt
harmloser, weniger verschlagen und berechnend daher.
Das
Flunkern oder auch Schwindeln zeichnet sich durch ein maßvolles Absehen von der
Wirklichkeit aus. Auch die Eigenlüge, der Selbstbetrug, ist letztlich ein weit
verbreitetes Ritual, um vor sich selbst und einer allzu harten Realität zu
bestehen: „Man Alter, so schlimm ist der Bauch doch gar nicht“. Jeder hat ein
Selbstbild von sich im Kopf, das mit der Wirklichkeit nicht unbedingt in
Einklang steht.
Allgemein
neigt man dazu, sich selbst aufzuwerten, positiver und selektiver wahrzunehmen
als dies der tatsächlichen Lage entspricht. Die Lüge übernimmt hier die Funktion
der Identitätsbewahrung und Realitätsbewältigung: das Leben wird durch die Lüge
überhaupt erst aushaltbar. Aus dieser Perspektive gerät der Selbstbetrug zum
strukturbildenden Prinzip der menschlichen Existenz überhaupt.
Das
Flunkern avanciert - wohldosiert eingesetzt - zu einem Mittel kluger
Lebensführung. „Leben lernen“ bedeutet in der postmodernen Gesellschaft zu
einem gewissen Grad wohl auch „Lügen lernen“. Indes, da gab es doch noch das
achte Gebot: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.“ Und
außerdem: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht“. Oh je, auch wieder wahr.
Wie
eng Lüge und Wahrheit miteinander verwoben sind, wie sie einander bedingen und sich
dabei gegenseitig beeinflussen, hat der österreichische Schriftsteller Thomas
Bernhard (1931-1989) erkannt und dereinst ebenso lakonisch wie zutreffend
formuliert: „Letzten Endes kommt es immer nur auf den Wahrheitsgehalt der Lüge
an“. Wie wahr.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen