Moderne
Völkerwanderung
Flüchtlingsströme und
Armutsmigration halten derzeit Europa in Atem
Nicht nur an der unmittelbaren Außengrenze zur Europäischen
Union, im Mittelmeer, sind in diesen Wochen dramatische Fluchtbewegungen zu
beobachten; auch in Südostasien haben sich Tausende Bootsflüchtlinge
aufgemacht, um Krieg, Armut, Verfolgung und Elend gegen ein Leben in Frieden
und Freiheit einzutauschen. Das Risiko der oft lebensgefährlichen Überfahrten
nehmen die Menschen dabei bewusst in Kauf.
Hier wie dort sind es skrupellose Schlepperorganisationen,
die sich an dem Flüchtlings-elend
bereichern und Flüchtlinge nicht selten auf besseren „Nussschalen“ und
Schlauchbooten auf die Überfahrt in eine ungewisse Zukunft schicken. In diesem
Frühjahr gab es beinah täglich Meldungen, die von havarierten Booten und dramatischen
Rettungsaktionen in Seenot geratener Flüchtlingen kündeten.
Zahlreiche Boote kenterten bei dem Versuch, das Mittelmeer
zu überqueren. Allein am 18. April diesen Jahres ertranken über 700 Flüchtlinge
im Meer, nur wenige Menschen konnten aus den Fluten gerettet werden. Schätzungen
der EU gehen davon aus, dass allein in Libyen bis zu eine Millionen Menschen
auf ihre Passage nach Europa warten. Die „Festung Europa“ wird unterdessen weiter von
der EU ausgebaut.
Die Migrationsbewegungen entfalten durch die Benutzung
moderner Verkehrsmittel (Flugzeug, Bahn, Auto) eine besondere Dynamik. Denn
längst nicht alle Flüchtlinge gelangen auf dem gefährlichen und strapaziösen
Seeweg nach Europa. Doch eben jene Bootsflüchtlinge sind es, welche die
Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit derzeit besonders erregen und die
europäischen Institutionen zum Handeln auffordern.
Schaut man in die Geschichtsbücher, so wird man Parallelen
erkennen, die dazu berechtigen, dass man von einer modernen Völkerwanderung
sprechen kann. Der Historiker Karl Schlögel hat die Erde einmal als „Planet der
Nomaden“ bezeichnet, da das Leben auf ihr seit Anbeginn von Wanderungsbewegungen
bestimmt ist. Schon früher sind die Menschen ausgewandert, um in der Fremde ihr
Heil zu suchen.
Die erste Wanderungswelle der Menschheit stellt die
Auswanderung des Homo sapiens aus Afrika vor rund 100.000 Jahren dar. In der
Antike kam es infolge der Ausdehnung des Römischen Reiches durch Kriege und
Eroberungen zu gewaltigen Bevölkerungs-verschiebungen und Wanderungswellen. Die
große Völkerwanderung in Europa datiert
aus dem 4.-6. Jahrhundert und wurde zum
festen Epochenbegriff.
Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde, heute ein Übergangswohnheim für Flüchtlinge und Asylbewerber |
Vom 16. bis ins 20. Jahrhundert schließlich vollzog sich ein
beispielloser
Migrantenstrom: Die Menschen kehrten dem armen, von
Unfreiheit geprägten Europa den Rücken und wanderten in die „Neue
Welt“ Amerikas aus. All dies belegt: Solang es Menschen gibt, war ein Teil von
ihnen auf der Wanderung in Regionen, die bessere Lebensbedingungen versprachen; derzeit sind weltweit Millionen auf der Flucht.
Dabei sind die Motive für die Auswanderung ebenso
verschieden wie die Menschen selbst. Man kann jedoch davon ausgehen, dass die
meisten Flüchtlinge ganz einfach von einem besseren Leben träumen - und wer
will ihnen das verdenken? Dass durch Migration Grenzen überschritten werden ist
dabei ebenso zwangsläufig wie banal. Und genau hier, in den Aufnahmestaaten, beginnt
das Problem mit der Migration.
Denn die Zuwanderer sehen sich an ihrem neuen Ort nicht
selten mit Vorurteilen und Ängsten konfrontiert. Migration verändert die
Zusammensetzung von Gesellschaften. Die Kommunen in den Aufnahmeländern werden
dabei nicht selten an die Grenzen ihrer finanziellen Belastbarkeit gebracht. Und
doch wird man Zuwanderung als eine historische Realität anerkennen müssen, die
sich kaum wirksam begrenzen lässt.
Die Zielstaaten der Migration müssen daher humane Antworten
auf die derzeitige Herausforderung einer neuen, globalen Völkerwanderung finden.